Also … eigentlich war das alles ja nur ein Versuch, mich am Handy zu halten. Es war abends, ich hatte keine Lust mehr, auf einen Bildschirm zu starren, und wollte mein Mobiltelefon – auf dem ich gerade mit meiner Freundin Hanna schrieb – ausschalten.
Nun, sie hatte andere Pläne.
Sie ließ mich verschiedene Wörter bilden (zum Beispiel eines, das mit K beginnt, ein V in der Mitte hat und auf E endet) und wenig später hatten wir eine bunte, mehr oder minder sinnvolle Mischung beisammen:
Kämme, käme, Käferpüree, Klavierbärtee, Waldbergkaff und Wuff.
»Gut«, befand Hanna daraufhin, »und jetzt mach eine Geschichte aus diesen Wörtern!«
Tja, wie könnte ich dazu Nein sagen?
Es war Nacht in Leipzig.
Der Mond stand hell am Himmel.
Ein kleines Mädchen lief durch die Straßen.
Es war allein.
Als es da so lang lief, dachte es an sein Zuhause.
An das, was es nun nicht mehr hatte.
Sie erinnerte sich daran, wie sie es gehasst hatte, all die Regeln einzuhalten.
Keine Knitter in den Sachen! Kämm deine Haare! Putz die Zähne ordentlich! Um Punkt 20:00 Uhr musst du im Bett sein!
Doch jetzt, da es vorbei war …
Sie würde alles dafür geben, auch nur einen der Kämme bei sich zu haben, um die Knoten aus ihren Haaren zu bekommen.
Und ein Bett zu haben, in dem sie schlafen konnte.
Nichts wünschte sie sich mehr.
Doch sie konnte nicht zurück.
Käme sie in diesem Zustand zurück … sie würden sie auslachen. Und dann wieder wegschicken.
»Du hast deine Chance verpasst«, würden sie sagen.
Und dann würde sie sich nur noch schlechter fühlen als zuvor.
Sie fror.
Und sie war hungrig.
Schrecklich hungrig.
Selbst das Kartoffelpüree, welches sie vorher so gehasst hatte, wäre besser als diese gähnende Leere in ihrem Magen.
Doch hier gab es nichts dergleichen.
Ein einsamer Käfer krabbelte über den Weg.
Sie betrachtete ihn.
Überlegte, ob sie das wirklich tun wollte – tun konnte.
Vielleicht konnte sie es sich schönreden.
Käferpüree – es klang nicht gar so schlimm, wenn sie es so nannte.
Ihr Magen knurrte.
Laut durchdrang das Geräusch die Stille der nächtlichen Gassen.
Sie hatte keine Wahl.
Da auf einmal sah sie in einem Schaufenster etwas aufblitzen, das ihren Blick fing.
Abrupt wandte sie sich um.
Sie bemerkte kaum, wie der Käfer davonkrabbelte, denn das Etwas im Schaufenster fing ihre gesamte Aufmerksamkeit.
Eigentlich war es nicht einmal etwas Besonderes.
Es war eine kleine Packung, nicht auffällig und sie bedeutete doch so viel.
Sie weckte Erinnerungen.
Erinnerungen an eine ferne Zeit, weit entfernt und kaum noch greifbar, doch in diesem Moment so präsent wie lange nicht mehr.
An einen fernen Ort, altbekannte Gerüche.
Sie war klein gewesen damals und die Erinnerungen waren verschwommen.
Doch an ein Wort erinnerte sie sich genau.
Es hatte sich in ihr Gedächtnis gebrannt, auch wenn es noch so albern war.
Eigentlich war es der Bärentee gewesen, denn auf der Packung des Hustentees war ein solcher abgebildet.
Doch dann war sie direkt auf dem Klavier gelandet.
Klavierbärtee.
So hatte sie es genannt.
Es war eines ihrer ersten Worte gewesen.
Damals, an einem Ort, den alle Leute nur »Das Waldbergkaff« nannten.
Ein Ort, der einst ihr Zuhause gewesen war.
Sie wurde jäh aus ihren Gedanken gerissen, als ein Geräusch sie herumfahren ließ.
Erschrocken schrie sie auf, als zwei leuchtende Augen sie anstarrten und wich ein paar Schritte zurück.
Der Hund folgte ihr.
Er war groß, beinahe so groß wie sie, sein Fell in einem dunklen Braunton.
Auf einmal stieß das Mädchen mit ihrem Rücken gegen eine Mülltonne.
Ein lautes Scheppern ertönte, gefolgt von einem ungemütlichen Knurren des Hundes.
Mit großen Augen starrte sie ihn an.
Auf einmal fiel ihr auf, wie verwahrlost er aussah.
Das Fell stand wild in alle Richtungen ab und die Augen wirkten müde und irgendwie traurig.
Er wirkte einsam.
Genau wie sie.
Ganz langsam ging sie wieder einen Schritt auf ihn zu.
Bedacht und mit äußerster Vorsicht streckte sie langsam ihre Hand nach vorne.
Der Hund bleckte die Zähne.
Einen Augenblick lang befürchtete sie, er würde sie beißen.
Seine Zähne waren wenige Zentimeter von ihren Fingern entfernt, doch sie regte sich nicht.
Es folgte ein Moment voll geladener Stille, in dem sich beide stumm anstarrten.
Dann, in einer plötzlichen Bewegung, schloss das Tier sein Maul und schnüffelte vorsichtig an der Hand.
Das Mädchen lächelte.
Es war ein trauriges Lächeln.
»Bist du auch so allein?«, flüsterte sie.
»Wuff«, machte der Hund.
»Ich habe Hunger«, sagte sie zu dem Tier.
Der Hund winselte.
Dann auf einmal drehte er sich um und lief davon.
»Hey, warte!«, bat sie und in ihre Stimme mischte sich Verzweiflung.
Doch der Hund ignorierte sie.
Zitternd vor Kälte und Einsamkeit sank das Mädchen auf den Boden.
Leise rannen Tränen über ihr verschmutztes Gesicht.
Im Nachhinein hätte sie nicht sagen können, wie lange sie so dasaß, gefangen in ihrer Traurigkeit, bis sie plötzlich ein leises Kratzen auf dem Steinboden aufblicken ließ.
Vor ihr stand der Hund.
Und in seinem Maul …
… ja, in seinem Maul trug er ein Brot.
Verblüfft starrte sie ihn an und beobachtete, wie er das Lebensmittel vor ihr ablegte.
»Ist das … für mich?«, fragte sie ein wenig dümmlich.
Der Hund hechelte.
»Danke!«
In diesem Moment vergaß sie jede Zurückhaltung und riss in raubtierartiger Manier ein Stück des Brotes ab.
Sie begann zu kauen.
Es tat so gut.
So gut, etwas essen zu können.
Und sei es nur ein altes Brot.
Als sie fertig war, lächelte sie ehrlich und es war das erste Mal seit Wochen.
»Komm«, sagte sie zu dem Hund. »Lass uns einen Schlafplatz suchen.«
Und gemeinsam liefen die beiden durch die Straßen von Leipzig.
Es sollte das letzte Mal sein, dass die Stadt einen der beiden sah.
Nur die Sterne und der hellstrahlende Mond waren Zeuge des Abschiedes, der keinem der Beteiligten schwer zu fallen schien.
ENDE
Also, ganz ehrlich? Hanna ist beim besten Willen nicht davon ausgegangen, dass hier etwas Ernsthaftes zustande kommt.
Und, mal nebenbei bemerkt: Ihre Zwischen-Kommentare waren auch nicht gerade hilfreich. Ich sage nur: »Vor grauen Jahren lebte ein Mann im Waldbergkaff, der einen Ring von unschätzbarem Wert besaß …«
Aber was meinst Du, wie habe ich mich angestellt?
Schreib es gerne in eine Bewertung!